Kritik

Wenn Kritik nur den Kritikern nützt

Kritik an der Kritik – wie konstruktiv ist sie wirklich? Eine Kolumne über die Hilflosigkeit der Kritik, die ohne Samen und Gärtner keinen fruchtbaren Boden findet.

Es gibt immer wieder Stimmen, die sich gegen den Hate auf YouTube erheben, ja es gibt mittlerweile sogar einen Haufen Songs dazu. Nahezu als Wohltäter stellen sich dann diejenigen dar, die ihre Meinung nicht als Hate sondern als Kritik formulieren. Doch abgesehen davon, dass sich auch ernst gemeinte Kritik des Öfteren im Ton vergreift, stellt sich die Frage, wie konstruktiv ist sie wirklich?

Konstruktiv bedeutet zweckdienlich. Stellt euch vor, ihr seid in einer neuen Stadt und wollt zum nächsten Bahnhof. Ich für meinen Teil halte es für wenig zweckdienlich, wenn ich neben euch herlaufe und euch immer, wenn ihr in die falsche Richtung lauft, eine ordentliche Nackenschelle verpasse. Wäre es nicht viel hilfreicher, ich würde euch eine Wegbeschreibung  oder einen Ansprechpartner, ja zumindest einen Hinweis geben?

Doch irgendwie ist das der Weg, den bis jetzt nahezu alle Kritiker auf YouTube gehen. Insbesondere wenn es um das öffentliche Verhalten der YouTuber zum Beispiel gegenüber ihren Fans geht, worauf ich mich hier beziehen möchte. Sie kritisieren und kritisieren, mäkeln und nörgeln herum und zählen Fehler um Fehler auf, die wer auch immer nun mal wieder gemacht hat. Und dabei bleibt es. Grenzen sich ab vom Hate, indem sie ihre Meinung begründen. Doch welchen Mehrwert hat Kritik, wenn sie nichts tut, außer zu kritisieren und sich dann oft auch noch im Ton vergreift?

Ja, YouTuber machen Fehler. Ja, viele von ihnen verhalten sich oft unverhältnismäßig, nicht vorbildlich und irreführend. Ja, sie müssten mehr auf ihre Zielgruppe achten. Ja, natürlich. Ja, sie machen Fehler. Und das ist uns ja zum Glück noch nie passiert – hupsi.

Aber das ist etwas ganz anderes! Ja, das ist es. Denn es ist öffentlich. Jeder sieht es. Sie tragen Verantwortung. Das ist anders. Und so haben unbedachte Momente manchmal gravierende Auswirkungen. Fehler macht jeder. Um J. K. Rowling zu zitieren:

“It is impossible to live without failing at something, unless you live so cautiously that you might as well not have lived at all – in which case, you failed by default.”

Soll heißen: Wir machen Fehler, weil wir leben. Jeder von uns. Und da YouTuber auch nur Menschen sind, machen sie ebenfalls Fehler. Und wer den Vorführeffekt kennt, weiß, dass man überproportional mehr Fehler macht, wenn jemand zuguckt. Und mit jedem weiteren Menschen, der zuguckt, kommt jemand hinzu, der etwas anderes als Fehler sieht. Aus diesem Grund muss man sich abhärten gegen die Meinung der Masse. Man muss den Hate aussondieren und die kleinlichen Kommentare, mit deren Kritik man nichts anfangen kann.

Bei deinem Weg zum Bahnhof hast du auch nach der hundertsten Nackenschelle noch nichts gelernt. Du wirst lediglich den Kopf einziehen und bockig weiterlaufen. Du wirst dich innerlich abhärten gegen jede weitere Schelle, weil du das Gefühl kriegst, sie helfen dir ja doch nicht. Wenn immerzu an allem, was du tust, herumgenörgelt und von allen Seiten an dir gezogen wird, wirst du immun. Und wenn du dann noch ständig positiv bestärkt wirst (durch deine Fans), dann ist es nicht verwunderlich, wenn man auch ernste, sinnvolle und durchaus berechtigte Kritik ablehnt, weil sie sich nicht von den anderen unterscheidet. Kritik, die keinen alternativen Weg aufzeigt, ist wenig hilfreich. Wenn sie dann noch darauf abzielt verletzend zu sein, prallt sie ab.

YouTube als Lebenswerk

Wir sollten niemals vergessen, dass YouTube für YouTuber, gerade die großen, eine völlig andere Bedeutung hat als für uns. Wenn uns ein Video nicht gefällt, schließen wir einfach den Tab – wobei ein Großteil sich vorher noch ordentlich und äußerst lesenswert in den Kommentaren darüber auslässt, wie scheiße sie es denn nun wirklich fanden.

Für die YouTuber ist YouTube allerdings ihr Leben. Sie arbeiten zig Stunden in der Woche an ihren Videos, der Ausarbeitung neuer Formate und der Interaktion mit den Fans. YouTube ist ihre Existenzgrundlage. Wenn jemand dein Lebenswerk niedermacht, bist du verletzt. In welchen Worten und auf welcher Plattform auch immer er es tut. Die wenigsten Menschen reagieren dann mit offenen Armen, geben dem Kritiker Recht und fragen nach Verbesserungsvorschlägen. Das liegt zum einen an der Natur des Menschen, jedoch zu einem großen Teil auch daran, dass die Kritiker meist nicht den Eindruck machen, als wollen sie wirklich helfen. Es geht immer nur darum, wer was schlecht macht, wer wo Fehler macht und wer wie seine Fans falsch behandelt und ihnen etwas vormacht.

Ich möchte nicht jedes Verhalten in Schutz nehmen oder Taten rechtfertigen, die vermieden hätten werden können, und viele Dinge sind so offensichtlich, dass die Hand ohne Fremdeinwirkung ganz selbstständig Richtung Stirn wandert. So hätte ich mir zum Beispiel definitiv ein Statement von Dagi Bee oder Sami Slimani gewünscht, als die ersten Tweets auftauchten, dass nun im Andenken an die Opfer der Germanwings-Katastrophe für die KCAs gevotet wird. Dazu muss etwas gesagt werden und das ist in diesem Fall die Pflicht der Nominierten, in deren Namen dies geschieht.

All die großen YouTuber, die heute an der Spitze stehen, haben nicht mit der Intention angefangen groß zu werden. Sie taten es aus Spaß und erfuhren nach und nach dann learning-by-doing wie das Geschäft läuft. Sie haben Managements und Netzwerke, die sich um ihre Vermarktung kümmern, die ihnen erklären wie die Chartplatzierung bei iTunes funktioniert und welche Passagen über die Nutzung von Bildmaterial in Verträgen wichtig sind. Was ich jedoch eindeutig kritikbedürftig finde, ist die fehlende Intervention der Netzwerke und Managements im Umgang mit Fans, in der Öffentlichkeitswirksamkeit und dem eigenen Image. Denn hier könnte gezeigt werden, dass es nicht nur um die kommerzielle Ausschöpfung der Stars geht, sondern darum, etwas richtig zu machen. Wo sind die Workshops und Berater, die die YouTuber im richtigen Umgang mit Millionen Fans schulen? Wo sind die Versuche einen Ehrenkodex auf YouTube zu schaffen? Wo ist der Weg in die richtige Richtung?

 Intervention

Ich denke niemand von ihnen steht morgens auf, stellt sich Hände reibend vor den Spiegel, blickt seinem (wahrscheinlich übermüdeten und unausgeschlafenem) Antlitz entgegen und sagt sich: „So, heute nehme ich meine Zuschauer mal so richtig aus. Auf geht’s!“

Oftmals stehen hinter irgendwelchen Aktionen wahrscheinlich kommerzialisierte Netzwerke und Managements, nette Versprechungen und großspurige Erzählungen in schillernden Farben. Dabei wäre eigentlich etwas ganz anderes nötig. Wo die Kritik im Umgang mit den Fans immer größer wird, wo die Zahl der Fans, die vor Wohnungen warten, stetig wächst, das nächste Abenteuer in einer nächtlichen Flucht über ein Feld endet und ein unbedachter Spaziergang durch die Innenstadt am Samstagnachmittag praktisch unmöglich scheint, muss doch klar sein, dass etwas getan werden muss. Es kann nicht sein, dass eine derartige Fannähe aufgebaut wird, dass sie ungesund wird. Es kann nicht sein, dass sich junge Mädchen ritzen und sich einreden nichts wert zu sein, weil sie von YouTuber XY nicht beachtet werden. Immer wieder erzählen YouTuber, dass sich Fans mit Problemen an sie wenden, die eher eines Psychologen bedürfen.

Sie müssen sensibilisiert und geschult werden. Dabei möchte ich niemandem auch nur in irgendeiner Form Unmündigkeit vorhalten, aber doch Unwissenheit bis zu einem gewissen Grad. Wenn jemand zu dir kommt und dir sagt, du sollst ein Auto bauen, wirst du es falsch machen. Genauso falsch wie Henry Ford, als er anfing, oder Carl Benz. Das ist die Natur der Dinge. Aber es kann nicht sein, dass alle anderen darauf erst aufmerksam werden und dann kritisieren, wenn das erste Auto gegen einen Baum gekracht ist, weil das Lenkrad vergessen wurde. Es gibt Dinge, die sind absehbar, so wie wachsende Fanzahlen bei einer wachsenden Branche. Und hier MUSS rechtzeitig interveniert werden.

Natürlich weißt du, dass ein Auto einen Motor hat, vier Räder, eine Abgasanlage, einen Antriebsstrang und einen süßen Dufttannenbaum am Rückspiegel. Doch die vielen Einzelheiten und vielleicht auch die Möglichkeiten sind für Leute, die teils unbedarft in solch eine Lage gerutscht sind und mit einem Mal ein Vorbild für Millionen junge Menschen sind, gar nicht absehbar.

Menschlichkeit

Warum also wird immer nur kritisiert und nicht geholfen? Warum wird immer nur vorgeworfen und nicht unterstützt? Wie kann man sich mit konstruktiver Kritik rühmen, wenn sie im Endeffekt doch zu nichts führt? Ewige Schuldzuschreibungen waren noch niemandem eine gute Unterstützung. Und wo Kritik nur dem Kritiker nützt und keinen Mehrwert schafft, finde ich es in keinster Weise verwunderlich, dass sie nicht gehört wird, weil man sich lieber vor einem vermeintlichen Angriff schützt und so vielleicht abermals unbedacht und unüberlegt im Affekt handelt und einen weiteren der ach so vielen Fehler begeht.

Und vielleicht geht es nicht darum, immer korrekt und angemessen zu handeln. Immer das Image zu wahren und professionell zu sein.
Manchmal geht es auch darum, menschlich zu sein. Emotionen zu zeigen.
Das ist es, was wir von YouTube erwarten.
Und was wir von Menschen erwarten.

Wir sollten anfangen, unser Gegenüber, wie kritikbedürftig auch immer sein Verhalten uns erscheinen mag, als Person zu betrachten und nicht als Objekt auf dem Bildschirm. Wir kennen nicht alle Facetten dieser Person und jeden Anlass, der zu dieser oder jener Äußerung führte. Wir haben kein Recht, immer und jeden zu verurteilen, selbst wenn er Fehler macht. Wir können den Fehler verurteilen und helfen, ihn einmalig zu machen, aber nicht die Person.

From the day we arrive on the planet
And blinking, step into the sun
There’s more to see than can ever be seen
More to do than can ever be done
There’s far too much to take in here
More to find than can ever be found
- Circle of Life, The Lion King

 

Beitragsbild von Robert Couse-Baker (CC BY 2.0)




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