Schubladendenken

Schubladendenken – über Stars und Fangirls

Immer wieder hört man die Begriffe Star und Fangirl - doch ist die Nutzung dieser Wörter wirklich gerechtfertigt? Eine Kolumne über die Kategorisierung auf YouTube und das Schubladendenken aller Beteiligten.

YouTuber sind keine Stars.

Eine Aussage, die die Runde macht, zu der es genau zwei Meinungen gibt. Rational betrachtet ist die Frage, ob YouTuber Stars sind, ganz eindeutig mit “Ja” zu beantworten. Selbst wenn man sich um die genaue Definition des Wortes Star streiten mag, so sind sie eindeutig Personen der Öffentlichkeit, und wenn ihnen noch keine Reporter mit flackernden Blitzlichtern nachsetzen, so stehen doch Menschen vor ihren Wohnungen und fallen ihnen in der Innenstadt kreischend um den Hals. Rein rational betrachtet, kann es keine andere Antwort auf diese Frage geben.

Doch das Leben ist nicht rein rational und Menschen sind es erst recht nicht. Wir reden uns die Dinge gern schön, sehen, was wir sehen wollen und glauben lieber einer schillernd verzerrten Lüge als der Wahrheit. So kommen Aussagen zustande wie „Nein, sie sind keine Stars.“ oder auch „Ich bin kein Star.“ Denn ein Star zu sein, hat nicht nur positive Effekte.

Zuschauer gibt es genug, die das Startum der YouTuber leugnen. Die Antwort auf die Frage nach dem warum ist einfach zu beantworten: Sie leugnen die annähernde Unnahbarkeit ihrer Idole. Doch nicht nur Zuschauer verneinen diese Frage gern. Auch YouTuber tun es. Bestreiten die simple Tatsache, weil es so vieles einfacher macht.

Star zu sein, schafft keine guten Voraussetzungen, um Vertrauen zu fassen. Und mit jeder Enttäuschung schwankt es mehr. Mit jedem Verlust zweifelt man mehr. Mit jedem Verrat wird man vorsichtiger. Langsam schleicht sich eine kleine Paranoia in dein Leben, ob der nächste Mensch, den du triffst, auch wirklich der ist, für den du ihn hältst. Jeder von uns kennt diese Vorsicht, doch mit der Bekanntheit steigert sie sich. Veröffentlichte Adressen und Handynummern sind kein kleines Ärgernis mehr, sondern ernsthafte Tyrannei.

Also leugnen sie es lieber – teils, weil sie die Wahrheit nicht mögen, teils, weil sie sich der Verantwortung nicht stellen wollen. Denn ein Star zu sein, bringt Opfer mit sich. Dein Privatleben gehört nicht mehr dir allein, du bist eine Person von öffentlichem Interesse, was die Pressefreiheit erhöht. Du hast eine Vorbildfunktion, die du nach Möglichkeit nicht missbrauchen solltest. Deine Meinung wird gehört und damit geht eine Verantwortung einher. Jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt und nach Möglichkeit auch noch verdreht. Keine schönen Voraussetzungen für ein unbeschwertes Leben und so leugnet man es, so lange man kann.

Fangirlschublade

Und wo YouTuber abstreiten wollen, dass sie Stars sind, tun sie etwas, um genau diese Tatsache zu bestätigen. Sie verallgemeinern ihre Zuschauer als Fans oder noch drastischer: Als Fangirls. Das gemeine Fangirl schaut dabei nicht nur beiläufig Videos. Es liket, ohne das Video gesehen zu haben, favorisiert jeden noch so unsinnigen Tweet, verbringt seine Freizeit damit, Bilder von YouTubern zu bearbeiten und tigert mit Fernglas und Wünschelrute bewaffnet durch die Stadt, um seinen Liebling zu treffen.

Natürlich gibt es Extreme, die in Hausfluren übernachten, vor Hotels lauern oder Bahnhöfe abklappern. Aber es stehen nicht zwei Millionen Fans vor eurem Haus, es schreiben nicht 700 000 Fans Heiratsanträge unter eure Bilder und es wählen nicht 1,2 Millionen Fans eure Nummern. Es sind wenige. Doch die Community wächst. Längst sind es keine vorstellbaren Zahlen mehr vor den Bildschirmen, keine simplen Videos rein aus Langeweile gedreht. Es sind Millionen. Und je größer die Plattform wird, umso mehr wird sie kategorisiert.

Ich hatte einige Gespräche – Jobinterviews, beiläufige Nebensätze – in denen stets die gleiche Frage fiel: „Bist du ein Fangirl?“
Es ist die erste und wahrscheinlich auch die einzige Frage, die in vielen Köpfen schwebt, sobald klar wird, dass ihr Gegenüber ein Gesicht schon einmal zweidimensional auf der Mattscheibe verfolgt hat, Merch trägt oder auch nur eine positive Meinung zu einem sonst vielleicht umstrittenen YouTuber hat. So beginnen genau die Menschen zu verurteilen, die sich selbst vehement gegen Verurteilung sträuben. Bilden eine Zweiklassengesellschaft, in der man sich für eine Seite der Kamera entscheiden muss. Dabei ist es völlig irrelevant, auf welcher Seite man steht, denn das ist sicher nicht der Punkt, der eine Persönlichkeit ausmacht – wie auch iBlali gestern so treffend bemerkte.

Und so geht auf YouTube, wo sich doch angeblich alles um Nähe und Authentizität dreht, die Individualität verloren. Man kann zwei Millionen Abonnenten natürlich nicht individuell betrachten – auch 500 000 nicht. Und dort, wo YouTuber nicht verallgemeinert werden wollen, wo sie als Mensch und nicht als Star betrachtet werden wollen, greifen sie zurück auf altbekannte Schubladensortimente. Ordnen ihre Zuschauer eben jenen zu und haben eine ganz besonders große reserviert für den so negativ behafteten Begriff des Fangirls.

Wo Persönlichkeit doch eigentlich groß geschrieben wird, verlieren viele die Fähigkeit diese zu bemerken. Nur weil ich Filme schaue, will ich Frodo nicht heiraten, auch Harry Potter nicht oder Edward Cullen (nein, wirklich nicht). Und ebenso wenig bete ich eine Illusion auf meinem Bildschirm an, selbst wenn sie mich als Freund betitelt. Böse gesagt ist es das, wo Abgehobenheit anfängt. Man beginnt alle Außenstehenden zu verallgemeinern und als lediglich am eigenen Ruhm interessiert anzusehen. Bist du ein Fangirl? Ja, bitte heirate mich und schenk mir 30 Kinder, ich übernachte auch in einem Schrank unter deinem Waschbecken. Bitte sieh mich nur so, unterscheide nicht, sondern verurteile. Ich verlange nicht, dass du mich als Mensch siehst und nicht als Subjekt in diesem Gefüge von Star und Fan, das verlangst du doch schließlich auch nicht… oder etwa doch?

Ist das Verbreiten des Fangirlbegriffes nicht ein Schritt in die Richtung, die so viele bemängeln? Ist es nicht die Verallgemeinerung dafür, dass Persönlichkeit (ob nun als schauspielerische Leistung oder nicht) mehr zählt als Content? Und ist es nicht genau das, wogegen sich so viele YouTuber wehren?

Diagramm Content Persönlichkeit

YouTuber erwarten, dass ihre Zuschauer abstrahieren und sie nicht als Star sehen. Dann sollten auch sie anfangen zu abstrahieren und ihre Zuschauer nicht als Glitzeremoji mit Herzchenaugen sehen. Vielleicht hat man für das Tragen von Merch auch viel banalere Gründe als eine erträumte Zukunft mit 25 Kindern. Vielleicht geht man einfach nicht gern nackt auf die Straße und verbindet mit einem Hoodie, auf dem das Logo eines YouTubers zu sehen ist, mehr als mit dem Aufdruck eines amerikanischen Baseballvereins. Vielleicht guckt man Videos einfach gern so wie früher Pokémon. Vielleicht ist einem der ein oder andere YouTuber sympathisch, so wie Nemo damals.

Vielleicht sind Star und Fan objektive Bezeichnungen, die auch wertfrei sein können. Doch in den meisten Fällen sind sie es nicht. Mit dem Begriff des Stars geht in vielen Köpfen die Abgehobenheit einher, die Klick- und Geldgeilheit, die beständige Heuchelei. Ebenso wie der Begriff des Fangirls stets negativ behaftet ist und gegen die Existenz einer eigenen Meinung spricht oder die Fähigkeit, selbst zu denken. Niemand von uns möchte so genannt und auf diese Bezeichnung reduziert werden. Niemand von uns möchte in eine Schublade geworfen werden, aus der er vielleicht nie wieder rauskommt. Niemand von uns möchte kategorisiert oder diskriminiert werden und doch ist es genau das, was wir alle tagtäglich mit anderen tun.

Vielleicht sollten wir anfangen, hinter diese Bezeichnungen zu gucken, Menschen wahrzunehmen und keine Paradigmen. Wir geben jedem Arzt, Schüler, Busfahrer, Versicherungsfachangestellten, Dachdecker oder Wurstfachverkäufer die Möglichkeit, sich uns als Mensch zu präsentieren. Vielleicht sollten wir das auch mit jedem YouTuber und jedem Fangirl tun.

 

(Natürlich darf sich nicht jeder angesprochen fühlen und mir ist bewusst, dass es auch viele differenzierende Köpfe auf YouTube gibt. Der Trend jedoch geht leider eindeutig in diese Richtung.)

Was denkt ihr über die Begriffe Star und Fangirl? Nutzen wir sie zu inflationär oder hat die Verallgemeinerung durchaus ihre Berechtigung?

Beitragsbild von Floodwall Project (CC BY 2.0)




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